Aufgrund der demographischen Entwicklung braucht Österreich bis 2030 insgesamt rund 90.000 Pflege- und Betreuungskräfte (diplomierte Fachkräfte, Pflegeassistenzkräfte, Heimhilfen). Selbst bei rascher und erfolgreicher Umsetzung des 2022 im Zuge der ersten Etappe der Pflegereform beschlossenen Ausbildungspakets und einer Attraktivierung sowie Entlastung der Pflegeberufe kann der Bedarf nicht ohne Arbeitskräfte aus dem Ausland, insbesondere aus Drittstaaten, gedeckt werden. Interessentinnen bzw. Interessenten aus Drittstaaten gäbe es, gerade in Ländern, die viele junge Menschen haben und für viele von ihnen wenig Arbeitsmarktperspektiven bieten können. Aber nur wenige finden den Weg nach Österreich. Nach Berechnungen des Hilfswerks auf Basis von Zahlenmaterial der Statstik Austra sind es gerade einmal durchschnittlich 130 (!) Pflegekräfte aus Drittstaaten pro Jahr, die in Österreich anerkannt und sesshaft werden.
Berufsanerkennung: Erste Trendwende in Aussicht, aber weiterhin mächtige Baustellen
Pflegeberufe gehören in Österreich zu den reglementierten Berufen und benötigen eine Berufsanerkennung im Falle von Herkunftsländern in der EU/EWR und aus der Schweiz (via BMBWF), im Falle von Drittstaaten ist eine Anerkennung über eine Nostrifikation für Pflegeassistenzberufe (zuständig: Landesregierungen) bzw. Nostrifizierung für Diplomierte Kräfte (zuständig: Fachhochschulen) notwendig. Das bedeutet eine detaillierte Einzelfallprüfung, inwiefern das im Herkunftsland absolvierte Curriculum dem jeweiligen österreichischen Stundenplan entspricht und welche Ausgleichsmaßnahmen (Kurse) nachzuholen sind. Die Nostrifikations-/Nostrifizierungsverfahren in Österreich sind komplex, bürokratisch und zeitintensiv. Sie bergen eine Reihe von Risiken und möglichen Verzögerungen, sie erzeugen unkalkulierbar hohe Kosten (z. B. durch verpflichtende Kurse und Gebühren). Und: Es fehlt jede Entsprechung zu zeitgemäßen Standards für Berufsanerkennungsverfahren im internationalen Kontext. Verbunden mit der Hürde der deutschen Sprache (für den Beruf unabdingbar!) wirkt die Gemengelage auf interessierte Bewerberinnen und Bewerber abschreckend und birgt zahlreiche Stolpersteine für potenzielle Arbeitgeber/innen.
„Im Vorhabenkatalog der zweiten Etappe der Pflegereform sind Maßnahmen enthalten, die punkto Pflegekräften aus Drittstaaten in die richtige Richtung gehen“, meint Elisabeth Anselm, Geschäftsführerin des Hilfswerk Österreich. So ist es aus Sicht des Hilfswerks positiv, dass Pflegeassistentinnen und -assistenten nun ebenso wie andere Berufsgruppen bereits während des Anerkennungsverfahrens beruflich tätig werden können. Hoch relevant sei die Absicht der Bundesregierung, bei der Berufsanerkennung von Pflegeassistenzberufen weg zu gehen vom „1:1-Vergleich der Fächer im jeweiligen Stundenausmaß“ hin zu einer „Gleichwertigkeitsprüfung von im Ausland erworbenen Ausbildungen“. „Damit könnte eine Trendwende in der Berufsanerkennung eingeleitet werden“, freut sich Anselm. Allerdings fehle es noch an vergleichbaren Absichten im Bereich der diplomierten Pflegekräfte. Und die Länder müssten hier auch dringend mitspielen, schließlich seien sie aktuell für die Ausgleichsmaßnahmen und Kurse zuständig. „Unser Ziel muss ein kompaktes Verfahren sein, mit definierter Dauer und berechenbaren Kosten, das die Arbeit mit praktischer Unterweisung in Ausbildungsbetrieben in abgestimmter Form mit der Vermittlung von Theorie verbindet“, so Anselm. Aktuell würden Verfahren bis zu zwei Jahre dauern und mehrere tausend Euro kosten.
Österreich braucht ein Bekenntnis und eine Strategie im internationalen Zusammenhang
„Was Bewerberinnen und Bewerber aus dem Ausland sehr oft thematisieren, ist, dass sie völlig in der Luft gehangen sind, was Information und Unterstützung bei Behördenwegen, Berufsanerkennung und Niederlassung angeht“, berichtet Anselm. Die Hilfswerk-Geschäftsführerin kritisiert: „Wir haben keinerlei leistungsfähige und adäquate Anlaufstellen und Services für Interessierte – weder in Österreich noch in den Herkunftsländern“. Dazu passe laut Hilfswerk, dass Österreich ein klares Bekenntnis zur Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland fehle. In der Folge mangele es auch an entsprechenden Maßnahmen. Es gebe beispielsweise auch keine Kooperationsabkommen mit relevanten Herkunftsländern. Was Pflegekräfte überdies dringend benötigen, ist eine sichere Niederlassungsperspektive. Sie bewegen sich – anders als bspw. IT-Spezialistinnen/-Spezialisten oder Mitarbeiter/innen im Management – üblicherweise nicht im Bereich internationaler Karrierewege und Arbeitskulturen, beispielsweise mit Englisch als Arbeitssprache, und/oder überdurchschnittlich hohen Gehältern. Daher brauchen sie Sicherheit, damit das Risiko einer Auswanderung, der komplexe Erwerb der deutschen Sprache, die unabdingbar für den Beruf ist, und die aufwändige Berufsanerkennung in einem reglementierten Beruf als Einsatz gerechtfertigt sind. Die Logik der Rot-Weiß-Rot-Card bietet diese Perspektive nur bedingt.
Während Österreich bei der Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland auf der „Kriechspur“ unterwegs sei, hätten Länder mit vergleichbarer Bevölkerungsstruktur längst auf die „Überholspur“ gewechselt, wie z. B. Deutschland, Dänemark, Schweiz und Großbritannien. Rund 20.000 Fachkräfte aus dem Ausland hat etwa die Bundesrepublik Deutschland pro Jahr (!) seit 2017 ins Land gelotst. Deutschland verfolgt seit über zehn Jahren eine gezielte Strategie zur Akquise von Pflegefachkräften aus Drittstaaten. Mit dem Programm „Work in Health! Germany“ gibt die deutsche Bundesregierung den strategischen Rahmen vor. Die Umsetzung im Ausland erfolgt u. a. durch die Deutsche Fachkräfteagentur für Gesundheits- und Pflegeberufe (DeFa). An Stützpunkten im Ausland bzw. mithilfe von Netzwerkpartnern gewährleistet sie umfassende Erstberatung Interessierter, deren Begleitung durch deutsche Verwaltungsverfahren und die Einhaltung internationaler Qualitätsstandards. Sie betreibt ein eigenes Förderprogramm für die Berufsanerkennungsverfahren und informiert auf dem Online-Portal www.make-it-in-germany.com. Schon 2013 hat Deutschland bilaterale „Triple-Win-Abkommen“ mit Staaten wie Bosnien-Herzegowina, Serbien (bis 2020), den Philippinen und Tunesien abgeschlossen. Desgleichen gibt es Abkommen mit Brasilien, Mexiko und El Salvador. Für Personen aus den Westbalkanstaaten reicht eine konkrete Jobzusage, um in Deutschland arbeiten zu dürfen.
Hilfswerk schlägt „Österreichs Fünf-Punkte-Programm für Pflegekräfte aus dem Ausland“ vor
„Eine proaktive und positive Gestaltung von Arbeitsmigration ist eine Schlüsselaufgabe für alle Staaten der EU“, sagt Othmar Karas. Gerade im Bereich der Pflegekräfte sei angesichts der Herausforderungen rasches und beherztes Handeln notwendig. „Zögern hilft uns nicht weiter, wir müssen ins Tun kommen“, ist Karas überzeugt und schlägt einen Fünf-Punkte-Plan vor.
- STRATEGIE UND BEKENNTNIS ZU PFLEGEKRÄFTEN AUS DEM AUSLAND: klares Bekenntnis sowie intelligente und ethische Strategie, um Personen aus dem Ausland, die an der Ausübung des Pflegeberufs in Österreich interessiert sind, den Weg nach Österreich zu ebnen (unter Berücksichtigung des WHO Global Code of Practice on the International Recruitment of Health Personnel)
- KOOPERATIONEN MIT HERKUNFTSLÄNDERN UND SERVICE VOR ORT: bilateral angepasste und gut abgestimmte Kooperationen mit interessierten Herkunftsländern; Anlaufstellen und Services in den Herkunftsländern vor Ort für interessierte Bewerber/innen aus den Herkunftsländern sowie Träger/Betriebe aus Österreich
- SICHERE: UND NACHHALTIGE NIEDERLASSUNGSPERPEKTIVEN: attraktive Aufenthaltstitel, die von Anfang an (vor der Auswanderungsentscheidung) berechenbare und langfristige Niederlassungsperspektiven bieten (ergänzend zur Logik der Rot-Weiß-Rot-Card), um das Risiko einer Auswanderung, den komplexen Erwerb der deutschen Sprache (unabdingbar für den Beruf) und die aufwändige Berufsanerkennung in einem reglementierten Beruf als Einsatz zu rechtfertigen
- WELCOME SERVICE FÜR PFLEGEKRÄFTE AUS DEM AUSLAND: Anlaufstellen für Pflegekräfte aus dem Ausland in Österreich (One-Stop-Shop); zielgruppengerecht aufbereitete Information und Begleitung bei Behördenwegen, bei der Berufsanerkennung, bei der Ansiedelung und Sesshaftwerdung in Österreich, bei der Integration und Community-Anbindung
- MODERNISIERUNG UND KOSTENFREISTELLUNG DER BERUFSANERKENNUNG: intelligentes kompaktes Verfahrens, mit definierter Dauer (Anfang/Ende) und berechenbaren Kosten, das die Arbeit mit praktischer Unterweisung in Ausbildungsbetrieben in abgestimmter Form mit der Vermittlung von Theorie verbindet; Befreiung der Betroffenen von anfallenden Kosten der Berufsanerkennungsmaßnahmen (insbes. Kurskosten, Gebühren).